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Porto Alegre, wie geht es weiter?

 

Nach meiner Unterbringung in einer kleinen Pousada in Canela bin ich zwar im Trockenen und sicher, stehe jedoch vor Luxusproblemen.

Schon im ersten Bericht habe ich es angesprochen: Irgendwie werde ich Gott nicht los. Meine Unterkunft grenzt an die Kathedrale von Canela, mein Hotel heißt Catedral, selbst die Bettwäsche und Handtücher sind mit dem Wort "Catedral" oder einem großen "C" bestickt.

Gestern wurde ich auf der Straße angesprochen, verstand natürlich nicht, was der Typ von mir wollte. Als er merkte, dass ich wohl das falsche Opfer bin, wechselte er auf Englisch und sagte mir mit seinen wenigen Fremdsprachenkenntnissen: "Jesus loves you."

Nun muss ich mich schon mit Gott und Jesus herumschlagen, die ich kaum kenne. Da ich sie weder in meinen Mails noch auf WhatsApp gefunden habe, sollte ich wohl mein Spamkonto überprüfen.

Trotz der Liebe, die ich anscheinend erfahre, regnet es weiter, nun schon den vierten Tag ununterbrochen. Hundert Kilometer weiter nördlich herrscht Dürre und Waldbrände.

Ich verstehe die Logik oder den Sinn nicht ganz, den der große Meister hier gerade anwendet. Die Temperaturen sind drastisch von 25°C auf 12°C gefallen, und in den nächsten Tagen sollen sie sogar auf 2°C sinken, was für die betroffenen Opfer hier weitere Schwierigkeiten bedeutet.

Was mich auch nachdenklich stimmt: In Europa ist diese Katastrophe hier kaum ein Thema. Ich habe in einer Tagesschau im Schweizer Fernsehen kurz nach einem Bericht über das Jahrhunderthochwasser in der Schweiz vor 10 Jahren nur einmal über die starken Regenfälle in Brasilien gehört. Seitdem herrscht Funkstille.

In der Schweiz gab es Schäden von über 500 Millionen CHF, örtlich begrenzt. Die Bilder zeigten Menschen, die bis zu den Knien im Wasser standen. Hier sind 470 Gemeinden mit über 3 Millionen direkt betroffen. Indirekt sind fast vier Millionen Menschen seit über einer Woche ohne Strom und Wasser, und das Wasser steht in der Stadt vier Meter hoch.

Dennoch wird über wirklich wichtige Dinge berichtet, wie z.B. über Nemo. Ich suche immer noch danach und verstehe zurzeit einfach nicht, was uns der große Meister damit sagen will.

Aber zurück zu meinen Problemen. Es regnet unaufhörlich wie aus Eimern, und mein Problem ist, dass ich möglichst trocken bleiben muss. Ich habe keine Kleider zum Wechseln dabei. Die vier T-Shirts und die Jacke, die ich eingepackt habe, trage ich alle, um mich vor der Kälte zu schützen. Es sind jetzt 12°C, und auch in der Pousada gibt es keine Heizung. Das wärmste Plätzchen ist mein Bett.

Die Pousada habe ich übrigens ganz für mich allein. Morgens kommt eine Frau vorbei, die mir Frühstück macht. Danach gehört das Haus für die nächsten 22 Stunden mir. Mit der Dame zu sprechen ist unmöglich. Seit dem ersten Tag versuche ich ihr klarzumachen, dass ich zum Frühstück weder Wurst noch Käse und schon gar keinen Kuchen mit Dulce de Leche brauche. Haferflocken, Früchte mit Joghurt und ein Ei wären super.

„Da bon, da bon“, das vermutlich bedeutet „alles klar, morgen das gleiche wieder“, denn anders kann ich es nicht verstehen, dass jeden Tag wieder Käse und Wurst auf dem Tisch stehen. Ich muss das übrigens bei Google Translate reklamieren, da muss ein schwerer Fehler im System sein. Wenn man „Da bon“ eingibt, steht da etwas ganz anderes für Mann, Frau oder Nonbinär.

Dafür vergisst die liebe Frau gelegentlich das Glas für den Saft, die Milch für den Kaffee oder bringt einige Dinge doppelt. Für Abwechslung ist also gesorgt. Sie hat aber auch richtig Stress, denn während meines Frühstücks schaut sie fasziniert und halb weggetreten ihre Lieblings-Soap auf ihrem Telefon. Ich habe schon überlegt, mein Frühstück später einzunehmen, was aber bedeuten würde, dass es kein Frühstück mehr, sondern ein frühes Abendessen wäre. Wie gesagt, Luxusprobleme.

Wenn es, was in den letzten Tagen eher selten vorkam, einmal nicht regnet, versuche ich an Bargeld oder etwas Essbares zu kommen. Ich habe 3 Banken in der Nähe ausfindig gemacht. Stecke ich meine Bankkarte in den Schlitz, krümmt sich der Kasten vor Lachen, und auf dem Display steht: „Was willst du mit dem Ding?“ und spuckt sie wieder aus. Gehe ich in ein Geschäft, piepst und blinkt der kleine Kasten wie ein Flipperautomat. Mehr geht da nicht.

Meine letzten 50 Riais habe ich in ein Kilo Bananen und einen Regenschirm investiert!

An meinem dritten Tag hier in Canela, der Regen hat gerade aufgehört, mache ich mich auf den Weg in die Stadt. Renate hat inzwischen reklamiert, ich sei zu mager. Wenn ich in den Spiegel schaue, finde ich, dass ich wie George Clooney aussehe. Hat der überhaupt jemals so gut ausgesehen?

Egal, ich steuere also potenziell gut gelegene Restaurants an, um dort mein kleines Problem zu schildern. Gut gelegen heißt für mich möglichst ohne Gäste, es muss ja nicht gleich jeder mitbekommen, dass ich pleite bin, auch wenn ich hier mit genug Geld in der Tasche herumlaufe, dass ich quasi ein gratis Jahresabo bei Prosegur bekommen könnte.

Und im dritten Restaurant wird mir geholfen. Die Karte wird auf jede erdenkliche Weise in das Gerät eingeführt, sie haben sogar mehrere davon, und beim letzten, nachdem wir von Debit auf Kredit gewechselt haben, funktioniert das Gerät, und ich bekomme Zugang zum Futternapf.

Keine Frage, ich schlage gleich zu: größtes verfügbares Menü, was es ist, ist egal, Hauptsache viel. Danach Apfelstrudel mit Vanilleeis und einen Espresso, wie Gott in Brasilien.

Trotzdem es inzwischen wieder wie aus Eimern regnet, fühle ich mich richtig wohl.

Meine Augen sind inzwischen viereckig, ich schaue den ganzen Tag Netflix, chatte mit Renate und schaue alle paar Stunden nach draußen und frage mich, woher all dieses Wasser kommt? Es ist einfach unglaublich.

Sechster Tag in Canela, gefühlte 2°C ohne Regen, der hat in der Nacht aufgehört. Meine Finger sind halb tiefgekühlt von der kalten Tastatur. Ich bin definitiv nicht für arktische Temperaturen geeignet. Ich frage mich, ob mir der Regen bei wärmeren Temperaturen nicht doch lieber war. Heute gehe ich zum Mittagessen irgendwo im Dorf, werde mir wohl einige Leintücher und den blauen Bettüberwurf umlegen.

Danach sehe ich zwar aus wie Muammar al Gaddafi, aber ich habe warm. Da ich natürlich wegen beschränktem Platzangebot bei meiner Rettung auf mein Rasierzeug verzichtet hatte, sehe ich inzwischen auch aus wie Muhammar. Hätte ich für die Rettung Business gebucht, hätte ich jetzt auch mehr Klamotten und Rasierzeug dabei. Sparen lohnt sich also bei einem Notfall nicht wirklich. Ich könnte natürlich, inzwischen kann ich sogar im Supermarkt mit meiner Karte bezahlen, indem ich einfach von Debit auf Kredit wechsle, mir Rasierzeug kaufen. Aber ehrlich gesagt, wer von uns gut aussehenden Boys möchte nicht auch einmal wie George Clooney aussehen?

Für die nächsten 2 Tage ist eher wenig Regen angesagt, dafür arschkalt. Mal sehen, ob das ausreicht, um den Wasserstand zu senken.

Renate kommt aus der Schweiz zurück, kann aber ihren gebuchten Flug nach Porto Alegre nicht antreten. Sie hätte dazu ein U-Boot-Upgrade machen müssen. Der Flughafen ist für vorerst 90 Tage geschlossen. Die Abflughalle sowie alle darunter liegenden Installationen für den Gepäcktransport sind unter Wasser und müssen zuerst ersetzt werden, das dürfte dauern.

Die ganze Region hier ist davon betroffen. Es handelt sich um das Urlaubsgebiet der Brasilianer; was nicht am Strand liegt, ist hier anzutreffen. 95% der Touristen reisen mit dem Flieger an. Der nächste Flughafen ist zwar nur ca. 70 km von Canela oder Gramado entfernt, aber er ist klein und kann bei Nebel, was hier häufig vorkommt, nicht angeflogen werden.

Wir holen Renate also in Caxias do Sul ab, brauchen aber für die Strecke von normalerweise 70 km fast 4 Stunden, da wir einen Umweg von 180 km machen müssen. Erdrutsche und zwei eingestürzte Brücken – auch hier wird es einige Monate dauern, bis die normale Strecke wieder befahrbar ist.

Wir sind also wieder zusammen. Gemeinsam geht alles gleich viel leichter!

Es ist alles organisiert, um den LKW mit einem Tieflader da rauszuholen und in einer geeigneten Werkstatt wieder fahrtüchtig zu machen. Bei 40 cm Wasserstand fahren wir los. Mal sehen, was wir da unten antreffen werden.

Es sind nun 12 Tage vergangen, und das Wasser fließt immer noch nicht ab. Aus São Paulo wurden sehr große Pumpen herbeigeschafft, die das Wasser aus der Stadt abpumpen sollen. 11 Stück davon werden installiert. Angeblich sollen pro Pumpe innerhalb von Minuten so viel Wasser abgepumpt werden können, wie in einem olympischen Pool vorhanden ist. Tatsächlich erhalten wir nach weiteren 2 Tagen die ersten Bilder, auf denen wir das Eingangstor zu unserem Parkplatz sehen können. Die Hälfte des Wassers ist weg. Es dürfte also, wenn nichts mehr passiert, in den nächsten 2 bis 3 Tagen soweit sein, dass wir zu unserem LKW zurückkehren können. Wir sind gespannt, was wir dort vorfinden werden.